Warum Familien mehr Fairness in den Sozialversicherungen brauchen
Von Stefan Becker
Mit der Aktion elternklagen.de kämpft der Familienbund der Katholiken für Familiengerechtigkeit in den Sozialversicherungen. Nachdem das Bundessozialgericht im vergangenen Herbst eine Klage des Verbandes auf faire Beiträge für Eltern abgelehnt hatte, geht der Familienbund jetzt in die nächste Runde und zieht vor das Bundesverfassungsgericht. Stefan Becker, Präsident des Familienbundes, erklärt, worum es geht.
Kaum ein Gerichtsurteil wurde im vergangenen Jahr mit größerer Spannung erwartet als die Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Musterklage des Familienbundes der Katholiken. Denn diese zielt auf einen milliardenschweren Umbau der deutschen Sozialversicherungssysteme.
Gemeinsam mit dem Ehepaar Markus und Katharina Essig forderten wir deutlich niedrigere Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen für Familien. Konkret wollten wir erreichen, dass Eltern ihre Beiträge in Zukunft nur unter Abzug eines Freibetrages in Höhe des steuerlichen Existenzminimums zahlen müssen. Ebenso wie im Steuerrecht soll es diesen Freibetrag für Kinder auch in den Sozialversicherungen geben. Den meisten Familien würde das eine spürbare finanzielle Entlastung bringen und viele vor der Armut bewahren.
Fakt ist, dass die Kindererziehung für die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung mindestens genauso wertvoll ist wie Geldbeiträge. Familien leisten deshalb einen doppelten Beitrag für die Sozialversicherungen – mit Kindern und Geld. Familiengerechtigkeit bedeutet, diesen doppelten Beitrag der Eltern anzuerkennen und entsprechende zu honorieren – nicht erst später bei der Rente, sondern bereits in der Erziehungsphase.
Bislang jedoch zahlen Eltern bei gleichem Einkommen die gleichen Beiträge wie Menschen ohne Unterhaltsverpflichtungen, unabhängig davon, ob und wie viele Kinder vom Einkommen der oder des Versicherten versorgt werden müssen. Die Anrechnung der Erziehungszeiten bei der Rente reicht nicht aus, um dies auszugleichen. Die aktuelle Höhe der Beiträge für Familien zu den Sozialversicherungen ist in unseren Augen deshalb ein klarer Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz unserer Verfassung.
Mit unserer Klage wollten wir, dass die Verfassungsmäßigkeit der Beitragsgestaltung für Familien in den Sozialsystemen durch das Bundessozialgericht geprüft und bei einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz eine Vorlage vor dem Bundesverfassungsgericht erwirkt wird. Unsere Klage haben wir gemeinsam mit dem Deutschen Familienverband öffentlichkeitswirksam mit der Kampagne „Wir jammern nicht, wir klagen“ begleitet. www.elternklagen.de
Der lange Weg durch die Instanzen
Seit dem Jahr 2006 zieht der Familienbund durch die Instanzen der deutschen Gerichte. Wir können uns dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes beziehen. Das hatte in seinem sogenannten Pflegeversicherungsurteil von 2001 entschieden: „Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.“ (Bundesverfassungsgericht , Urteil vom 03. April 2001 - 1 BvR 1629/94). Gleichzeitig gaben die Karlsruher Richter der Bundesregierung einen Prüfauftrag für die anderen Zweige der Sozialversicherung mit auf den Weg. Die Benachteiligung der Familien sei mit jeder Reform zu beseitigen. Doch passiert ist seitdem herzlich wenig.
Diese Untätigkeit der Politik wollte der Familienbund nicht länger hinnehmen. Wir wollten fast 15 Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nun vom Bundessozialgericht ein Urteil, das der Argumentation der Verfassungsrichter folgt und die Beiträge der Familien zur gesetzliche Rentenversicherung, der Kranken- und erneut - der Pflegeversicherung als unvereinbar mit dem Grundgesetz benennt.
Skandalöse Überraschungsentscheidung
Das Urteil allerdings, dass der 12. Senat am 30. September 2015 sprach, war ein herber Rückschlag für Familien: die Kasseler Richter sahen es als unbegründet an, dass Eltern wegen des Aufwandes für die Betreuung und Erziehung von Kindern weniger Beiträge in die Sozialversicherungen zahlen sollten. „Ein Verfassungsverstoß liegt nach Auffassung des Senats nicht vor", sagte der Vorsitzende Richter Hans-Jürgen Kretschmer. Die Klage wurde abgewiesen.
Dieses Urteil war nicht nur für den Familienbund enttäuschend, auch bei Familie Essig und den Prozessbevollmächtigten Prof. Thorsten Kingreen und Dr. Jürgen Borchert stieß die Entscheidung auf Unverständnis. Dr. Jürgen Borchert bezeichnete die Entscheidung als "skandalöse Überraschungsentscheidung". Die Leistungen der Eltern für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme wurden von den Richtern nicht anerkannt. Im Gegenteil. Die Begründungen klangen für uns haarsträubend.
Das Gericht überraschte beispielsweise mit der Aussage, die Renten- und die Krankenversicherung seien mit der ebenfalls umlagefinanzierten Pflegeversicherung nicht vergleichbar. Auch sei der generative Beitrag nicht gleichartig mit dem monetären Beitrag, da erster nicht unmittelbar an die Rentnergeneration ausgeschüttet werden könne. Weiter kam der Senat zu dem Ergebnis, dass es in der Krankenversicherung zu keiner Umverteilung von der jungen zur alten Generation komme. Die Richter versuchten dies zu belegen, indem sie der Gruppe der 65-plus-Generation, die im vergangenen Jahr Gesundheitskosten von rund 128 Milliarden Euro verursachte, die zahlenmäßig weitaus größere Gruppe der unter 65-Jährigen (Kosten: 131 Milliarden Euro) gegenüberstellten und miteinander verglichen. Eine absurde und unzulässige Rechnung.
Familien hoffen auf das Bundesverfassungsgericht
Jetzt geht die Klage in die nächste Runde. Im Dezember reichten 376 Familien, die sich in unserer Kampagne Elternklagen.de zusammengefunden hatten, gemeinsam eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Wir wehren uns mit dieser Beschwerde gegen die Finanzierung des Pflegevorsorgefonds. Dieser wurde zum 1. Januar 2015 eingeführt. Seitdem werden 0,1 Prozentpunkte der Beiträge zur Pflegeversicherung in diesem Fonds angelegt. Doch wieder zahlen unterhaltspflichtige Eltern in gleicher Höhe Beiträge ein wie Kinderlose – entgegen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2001. Eltern müssen damit für die Abfederung eines demografischen Problems zahlen, für das sie nicht verantwortlich sind. Das ist ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz. Und dieser Verstoß wird beim Pflegevorsorgefonds auf die Spitze getrieben.
Daneben bereiten die Anwälte des Aktionsbündnisses eine weitere Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vor – für Beitragsgerechtigkeit in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Sie wird eingereicht, sobald die schriftliche Urteilsbegründung des Bundessozialgerichtes vorliegt. Die Hoffnungen der Familien liegen dann auf den Karlsruher Richtern. Diese hatten in der Vergangenheit immer wieder Fehlurteile vorangegangener Instanzen korrigiert und den Auftrag dafür gegeben, politische Rahmenbedingungen zu Gunsten der Familien zu ändern.
Wir klagen für Familiengerechtigkeit, um Familien faire Rahmenbedingungen und Kindern ein bestmögliches Aufwachsen zu sichern. Wir klagen auch in der Überzeugung, dass letzten Endes alle Versicherten - ob mit oder ohne Kinder - davon profitieren, wenn Familien entlastet werden. Schließlich ist jedes System nur so tragfähig wie sein schwächstes Glied. Wenn wir Familien stärken, stärken wir die Basis und die Zukunft unserer Sozialversicherungen. Denn es sind die Familien, die mit der Kindererziehung dafür sorgen, dass alle Versicherten im Alter, in Krankheit und Pflegebedürftigkeit versorgt werden können. Ein solidarisches Sozialsystem bedeutet, dass Jeder und Jede in jeder Lebensphase fair an den Kosten für die Sicherung des Systems beteiligt wird. Die Herausforderungen, die auf unsere Sozialversicherungen durch den demografischen Wandel zukommen, können wir nur gemeinsam bewältigen.
Der Artikel ist erschienen in "Salzkörner" Jg. Nr.22, Ausgabe 1: http://www.zdk.de/veroeffentlichungen/salzkoerner/
Auf dem Foto oben: Markus und Katharina Essig bei der mündlichen Anhörung vor dem Bundessozialgericht am 30. September 2015. (Foto: C. Hagen)